We, the six million – unser Schulprojekt seit 2018
Der Anlass
Im November 2018 jährte sich die Reichspogromnacht zum 80. Mal. Dazu fanden landesweit zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt. Zusammen mit der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen nahmen wir diesen Jahrestag zum Anlass für Forschungen in unserer Region. Lehrende und Studierende der RWTH Aachen waren unsere Partner. Denn in unserer Schule haben wir das Glück, dass ein Kollegiumsmitglied, Prof. Dr. Reinhold Breil, dort an der Philosophischen Fakultät tätig ist und so zum Initiator in unserer Schule geworden ist.
We, the six million: Eine Wanderausstellung der RWTH Aachen zu jüdischen Biografien
Mit den Worten »We, The Six Million Murdered People Speak« beginnt ein Gedicht von Dr. Davin Schönberger, das heute noch im Schulunterricht in den Vereinigten Staaten von Amerika gelesen wird. Schönberger war der letzte Rabbiner der Aachener Synagogengemeinde in den 1930er Jahren. Für ihn ist die Shoah Teil seiner eigenen jüdischen und unserer heutigen Identität, die uns dazu verpflichtet, für »Gerechtigkeit, Eintracht und Frieden« in der Welt zu sorgen. Die erste Zeile des Gedichts ist der überaus passende, weil persönliche und damit unmittelbar ansprechende Titel von Ausstellung und weiteren Projektbestandteilen. Hieraus ergab sich als Projektziel der RWTH, wie auch unserer Schule, möglichst vielen Opfern der Shoah im westlichen Rheinland eine Stimme zu geben, sie nachträglich sprechen zu lassen. Erinnern und vergegenwärtigen wollten wir Ausgrenzung, Stigmatisierung, Vertreibung und Ermordung. Die Lebensberichte entstanden an der Aachener Hochschule in Seminaren mit Studierenden und Mitarbeitern. Durch den zeitlich begrenzten Zugang zu den Originalakten konnten die Aachener Studenten Lebenswege Ermordeter und Überlebender rekonstruieren. Zunächst waren ca. 20 solcher Biografien geplant – inzwischen konnten aber schon über 100 rekonstruiert und aufgeschrieben werden.
Das Schulprojekt
Die RWTH stellte die von Studenten geschriebenen Biografien unserer Schule zur Verfügung. Mit einem Team von sieben interessierten Lehrkräften (Frau Bucks, Frau Dauvermann, Frau Flurer, Herr Gawlick, Herr Leineweber, Herr Leyers, Herr Schneiderwind) boten wir fünf Projektgruppen an, in die sich die Stufe Q1 einwählen konnte. Für Pilotprojekte in Geschichte, Kunst, Philosophie, Religion und Kreatives Schreiben bildeten sich interessierte und motivierte Gruppen.
An zwei Projekttagen intensivster konzentrierter Arbeit befassten sich die Jugendlichen aus der jeweiligen fachlichen Perspektive mit den Vorlagen und gingen weit darüber hinaus. Sie lasen religiöse, historische und philosophische Texte, schrieben selbst, dachten nach und forschten weiter; sie diskutierten, zeichneten, planten und schufen in einem Kunstprojekt Stelen der Erinnerung für „ihren“ jüdischen Menschen. Und wir hatten das besondere Glück, durch unsere Pionierarbeit (und unseren guten Kontakt natürlich) zur Pilotschule zu werden.
Wir durften in der Woche vor dem Jahrestag die Ausstellung in unserem Forum zeigen, bevor sie nach Aachen wechselte und im Krönungssaal des dortigen Rathauses offiziell eröffnet wurde. Als eine besondere Anerkennung empfanden wir es, dass die biografischen Stelen – ein Arbeitsergebnis des Kunstprojekts – ebenfalls im Krönungssaal aufgestellt wurden. So konnten wir dort das große Interesse erleben, mit dem in- und ausländische Besucher des Rathauses diese unerwartete Präsentation nachdenklich betrachteten.
Unsere Ideen – das didaktische Konzept zur Ausstellung
Die Ausstellung ist eine Wanderausstellung. Schnell war sie für die nächsten Jahre ausgebucht (und es gibt Anfragen aus den USA und Israel). Das heißt, dass vielerorts in inzwischen mehr als vierzig weiterführenden Schulen eine Präsentation gezeigt wird, mit der man erstmal „fertig werden“ muss als jugendlicher Mensch, aber auch als Lehrkraft. Und so beschlossen wir, den Lehrkräften nach uns und ihren Schülern Material an die Hand zu geben, damit sie sich der Ausstellung widmen können, auch wenn die Lehrpläne ohnehin voll sind und eigentlich „für solche Extras“ gar keine Zeit ist. Und wir schrieben ein Buch. Alle zusammen, aber jeder seinen Teil. Unser Anliegen steht auf dem rückwärtigen Einband: „Wir fragen hier nicht, was man historisch zum Thema Holocaust wissen muss oder sollte. Wir fragen danach, was uns die Menschen mit ihren Schicksalen sagen. Wir suchen nach ihrer Bedeutung für uns.“
Erfahrungen unserer Schülerinnen und Schüler
Die Projekterfahrungen zeigen bei vielen Schülerinnen und Schülern die Entstehung einer erheblichen Betroffenheit, wenn sie sich mit den Lebensschicksalen auseinandersetzen. Denn ihnen begegnen Menschen wie der jüdische Schüler Alfred Voss aus Aachen, der als Überlebender zum Projektzeitpunkt noch in den USA lebte und mit dem die Aachener Studenten noch telefonieren konnten. Er war eines der Gründungsmitglieder und Förderer des Holocaust Memorials in Washington. 2020 ist er hochbetagt verstorben. Schülerinnen und Schüler sagten: „Jetzt kann ich mir viel besser vorstellen, was passiert ist.“ Sie fragen, „wie es dazu kommen konnte“ und ob „so etwas“ nicht wieder geschehen könnte. Und schließlich: "Wie können Antisemitismus und daraus resultierende Gewalt verhindert werden?" "Liegt die mögliche Lösung nicht in staatlicher Demokratie und in einer an unseren Grundwerten orientierten Gesellschaft?
Vorträge und Besuche in der Schule
Nicht nur Biografien, eine Ausstellung, ein Buch und Projektergebnisse aus unserer Schule sind entstanden. Neben deren Präsentation und verschiedenen Veranstaltungen in der RWTH lud unsere Schule zu einer Abendveranstaltung mit zwei Vorträgen zu Kinderschicksalen und dem bekannten jüdischen Philosophen Hans Jonas ein: „Die Schicksale der Kinder des Israelitischen Waisenhauses Dinslaken 1933 bis 1945" von Frau Anne Prior, Vorsitzende des Vereins „Stolpersteine für Dinslaken e.V.“, Autorin und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes, Dinslaken und „Hans Jonas – Philosoph und Ehrenbürger der Stadt MG“ von Herrn Dr. Ralf Seidel, Vorsitzender der Hans-Jonas-Gesellschaft, Mönchengladbach.
Wir veranstalteten ein Treffen für geladene Schulleiter/innen der Schulen in MG mit der Gelegenheit zum Besuch der Ausstellung, der Vorstellung des Projekts und des Buchs. Auch das Zentrum für Schulpraktische Lehrerausbildung in Mönchengladbach besuchte uns mit einzelnen Seminargruppen angehender Lehrkräfte. Später war die Ausstellung auch in den dortigen Räumen zu Gast.
Ein Podiumsgespräch im Aachener Rathaus
Am 10. November gab es – für uns als Schule zum würdigen Abschluss in wunderbarem, historischem Ambiente - ein Podiumsgespräch zum Thema „Antisemitismus in der Schule“ im Krönungssaal des Aachener Rathauses, an dem Frau Sabine Verheyen, Europaabgeordnete aus Aachen und Prof. Dr. Jürgen Wilhelm, Vorsitzender der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. und Frau Martina Gottlieb, damalige Schulleiterin unserer Schule teilnahmen. Herr Prof. Dr. Breil moderierte.
Besuch aus Geilenkirchen und den USA
Im November 2019 besuchten uns überraschend vier Herren: Herr Karl-Heinz Nieren von der Initiative Erinnern Geilenkirchen, der als Forscher zu jüdischem Leben in seinem Heimatort schon vor Jahren einen Amerikaner „gefunden“ und sich mit diesem befreundet hatte: Mr Steve Cole aus Kansas City ist im Vorstand des dortigen Midwest Center for Holocaust Education und hält als Second Generation Speaker die Erinnerung an jüdische Schicksale wach, denn seine Mutter Ilsa, geb. Dahl, stammte aus einer Geilenkirchener Familie, die dort seit 1700 lebte. Ilsa Dahl verließ kurz nach der Reichspogromnacht Deutschland und floh in die USA, wo sie ihr weiteres Leben verbrachte. Mit ihren Kindern sprach sie nie Deutsch. Mr Coles Söhne begleiteten ihn auf dieser Deutschlandreise und begegneten in unserer Schule verschiedenen Oberstufengruppen, mit denen sie ins Gespräch kamen – auf Englisch natürlich. Der Einladung zur Feierstunde des Oberbürgermeisters, in der Herr Nieren einen Preis für sein Engagement erhielt und in der auch Mr Cole ein Grußwort sprach, folgten wir sehr gern.
Ein Preis für uns
Kurz darauf durfte sich unsere Schule darüber freuen, dass sie für ihre Projektidee mit einem Preis geehrt wurde. Neben einigen anderen Schulen mit eindrucksvollen Projektideen erhielt sie in einer Feierstunde mit Oberbürgermeister Reiners im Haus Erholung eine Urkunde und eine finanzielle Zuwendung an den Förderverein.
Artikel der Rheinischen Post vom 13.11.2019
Schule ohne Rassismus 2021
Im Juni ist die Ausstellung für unseren Projekttag an unsere Schule zurückgekommen.
Niederlande und Israel
Die Ausstellung wandert bis heute – unterbrochen durch die Pandemie, aber bei ungebrochenem, auch internationalem Interesse. Die Niederlande und Israel haben lange schon ihr Interesse an der Ausleihe der Ausstellung und am Schulprojekt bekundet. Frau Nothelle hat inzwischen große Teile unseres Buchs ins Englische übersetzt. Frau Gottlieb hat ihre Beiträge neu auf Englisch verfasst oder übertragen. Seit November 2021 befindet sich die Ausstellung für drei Monate in Israel.
Am 30. April 2021 wurde die Ausstellung im Flexiforum Kerkrade eröffnet (Video). Mit dabei waren von unserer Schule Frau Nothelle und Herr Breil als Projektleiter für die RWTH Aachen. Bis zu den Sommerferien kamen weitere Schulen der Provinz Limburg hinzu.
Im November 2021 startet die Ausstellung in Israel, unterstützt vom Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie wird dort für drei Monate an zahlreichen Schulen zu sehen sein.
Martina Gottlieb, Reinhold Breil